Einführung in Behavioral Finance

Thomas aka DecenTrade
8 min readOct 14, 2020

Wir Menschen neigen zu Verhaltensmustern, die bis an die Anfänge der Menschheit zurückreichen. Diese Verhaltensmuster sind emotional geprägt und sicherten das Überleben unserer Spezies. Heute kosten sie uns potenziell bares Geld an den Finanzmärkten.

Vielleicht klingt die Einleitung für dich ein wenig überzogen. Wie, steinzeitliche Verhaltensmuster kosten uns bares Geld an den heutigen Finanzmärkten? Ja, denn schon damals in der Steinzeit ließen sich die Menschen von ihren Emotionen leiten. Freude, Enthusiasmus, Euphorie, Gier, Selbstüberschätzung, Angst, Panik, Wut… die Liste ist lang. Was damals durchaus sinnvoll war, ist an den Finanzmärkten allerdings brandgefährlich.

Wie du aus meinem ersten Artikel hier auf Medium vielleicht weißt, bin ich bekennender Anhänger der Verhaltensökonomik. Spezifischer der sog. Behavioral Finance. Hierbei wird das Verhalten des Menschen an den Finanzmärkten untersucht. Was Behavioral Finance ist und was wir daraus lernen können, wollen wir heute näher beleuchten. Außerdem schauen wir uns die vier Schlüsselverhaltensmuster aus diesem Bereich an: den Ankereffekt, das Herdenverhalten, das Mental Accounting und die Selbstüberschätzung.

Der Mensch und seine Emotionen

Das Ausmaß an Irrationalität an den Finanzmärkten steht im krassen Widerspruch zur Markteffizienzhypothese (EMH). Diese sieht Marktteilnehmer rational handeln und praktisch fehlerfreie Entscheidungen treffen. Dass diese Theorie brüchig wirkt, kann schon alleine aus diesen beiden Annahmen entnommen werden. Aber es geht hier gar nicht um Theorien und deren Richtigkeit. Es geht um die Tatsache, dass wir alle bestimmten Verhaltensmustern unterliegen.

Einige dieser Verhaltensmuster reichen hunderttausende Jahre zurück. Am Anfang der Menschheit sicherten sie uns das Überleben. Herdenverhalten beispielsweise war damals noch immens wichtig. Sich auf der Jagd von der Gruppe zu trennen, endete in den meisten Fällen tödlich. Und heute? Der Mehrheit an den Finanzmärkten nachzujagen kann heutzutage zu bösen Verlusten führen.

Emotionen steuern die Finanzmärkte

80% aller Marktaktivitäten sind das Resultat von emotional getriebenen Entscheidungen. Das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass derjenige, der seine Emotionen unter Kontrolle hat und psychologische Fallen als solche erkennen kann, einen Vorteil gegenüber der breiten Masse besitzt. Diesen Vorteil zu nutzen, sollte eigentlich das Anliegen eines jeden Investors und Traders sein. Es ist jedenfalls mein Anliegen.

Lass mich dir nachfolgend versuchen zu helfen, indem wir uns die vier Schlüsselverhaltensmuster der Behavioral Finance ansehen. Um diese Verhaltensweisen nämlich erkennen zu können, müssen wir sie zunächst kennenlernen. Deshalb würde ich vorschlagen, dass wir keine weitere Zeit verlieren. Folgen wir dem Alphabet und fangen bei A wie Ankereffekt an!

Gleich vorweg: Wir sehen uns nachfolgend nicht alle Verhaltensmuster an, da darüber ganze Bücher geschrieben werden könnten und geschrieben wurden. Ich war so frei die für mich persönlich wichtigsten Verhaltensmuster auszuwählen.

Ankereffekt

Da wir uns in den Finanzmärkten in einem Umfeld von Wahrscheinlichkeiten bewegen, können wir alle nur schätzen. Und unsere Einschätzungen unterliegen dabei dem sogenannten Ankereffekt. Sehen wir uns hierzu an, was der entsprechende Wikipedia-Artikel zum Ankereffekt zu sagen hat:

Ankereffekt ist ein Begriff aus der Kognitionspsychologie für die Tatsache, dass Menschen bei bewusst gewählten Zahlenwerten von momentan vorhandenen Umgebungsinformationen beeinflusst werden, ohne dass ihnen dieser Einfluss bewusst wird. […] Es handelt sich also um einen Effekt, bei dem sich das Urteil an einem willkürlichen Anker orientiert. Die Folge ist eine systematische Verzerrung in Richtung des Ankers. — Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Ankereffekt)

Beispiele für den Ankereffekt gibt es genug. So sollten Versuchspersonen bspw. schätzen, wie groß der höchste Riesenmammutbaum ist. Eine Hälfte der Gruppe bekam dabei 365,76 Meter als Anker. Die durchschnittliche Schätzung betrug dann 257,25 Meter. Die andere Hälfte bekam als Anker 54,86 Meter. Als Resultat lag die durchschnittliche Schätzung dann bei 85,95 Metern. (Karen E. Jacowitz & Daniel Kahneman — Measures of Anchoring in Estimation Tasks aus dem November 1995)

Die Auswirkungen des Ankereffekts an den Finanzmärkten

Bei Prognosen von in der Zukunft liegenden Preisbewegungen, verhält es sich selbst bei Experten oft genauso. Wir unterliegen Ankerpunkten, wie zum Beispiel dem aktuellen Tageskurs. Hinzu kommt dann eine Korrektur nach oben oder unten. Fertig ist die zukünftige Entwicklung eines Preises. Ja, selbst bei eingehender Analyse! Resultate des Ankereffekts an den Finanzmärkten können zum Beispiel nach starken Preisbewegungen als Akkumulation oder Distribution beobachtet werden.

Denn obwohl eine Information bedeutsam ist, halten sich die Marktteilnehmer an Ankerpunkten fest und korrigieren ihre Einschätzung. In diesen Prozess greifen dann auch Emotionen ein. Hoffnung und Zweifel spalten die Marktteilnehmer basierend auf der Risikobereitschaft und sorgen dafür, dass der Preis zunächst seitwärts verläuft. Dadurch fallen die Preisbewegungen zunächst geringer aus, als womöglich gerechtfertigt.

Herdenverhalten

“The trend is your friend”, ist einer der häufigsten Ratschläge für Neulinge im Trading. Dieser Leitsatz und zugehörige Tradingstrategien sind durchaus effektiv im Trading - sofern ein Trend vorhanden ist. Wenn wir aber die Trends in den Tendenzen der Marktteilnehmer beobachten, sollten wir diese lieber nicht als Freunde ansehen. Denn diese Tendenzen entstehen durch das sogenannte Herdenverhalten. Der Forscher Abhijit Banerjee beschrieb hierzu im Jahr 1992 dieses Herdenverhalten eingehend.

Herdenverhalten ist das Verhalten von Marktteilnehmern an Finanzmärkten, wenn sie dazu neigen, die gleichen Entscheidungen zu treffen, die andere Marktteilnehmer bereits vor ihnen getroffen haben. — Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Herdenverhalten)

Der Forscher Abhijit Banerjee beschrieb hierzu im Jahr 1992 dieses Herdenverhalten folgendermaßen:

Schlecht informierte oder unerfahrene Marktteilnehmer schlussfolgern aus dem Verhalten der besser informierten oder erfahrenen Marktteilnehmer, eine gewisse Gewinnchance oder Verlustgefahr. Um diese Gewinnchance zu realisieren bzw. die Verlustgefahr zu vermeiden, imitieren die schlecht informierten oder unerfahrenen Marktteilnehmer dann die besser informierten oder erfahrenen Marktteilnehmer.

Herdenverhalten ist an den Finanzmärkten allgegenwärtig

Wenn wir an die Märkte blicken, dann erkennen wir Herdenverhalten an vielen Stellen. Die Masse kauft selten dann, wenn ein Kurs stark gefallen ist. Stattdessen steigt die Mehrheit in einen Kurs ein, der bereits gestiegen ist. Denn Preise, die nach oben gehen, müssen ja “gut laufen”. Die Medien und die Meinungen von Analysten und Experten (die auch oftmals von Verhaltensmustern und Emotionen getrübt sind) tragen viel zu diesem Effekt bei. Selbst Fondsmanager folgen dem Mainstream der Märkte.

Und ja, natürlich, mit dem Trend zu gehen ist durchaus leichter, als gegen den Strom zu schwimmen. Blasenbildungen und Crashes sind allerdings Folgen dieses Herdenverhaltens. Beobachtbare Folgen! Denn hier greifen abermals Emotionen ein. Namentlich die Angst, etwas zu verpassen (gerne auch als Fear Of Missing Out — kurz: FOMO bezeichnet) und die übertriebene Angst vor Verlusten, auch bekannt als Panikverkäufe.

Mental Accounting

Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler begründete 1980 und 1985 die Theorie der mentalen Buchführung (englisch Mental Accounting). Dabei geht es um die Neigung von Menschen, verschiedene Geldbeträge zu kategorisieren (z.B. Haushaltskasse, Urlaubskasse, etc.). Und diese Kategorien werden dann unterschiedlich bewertet. Auf Wikipedia heißt es hierzu sehr schön erklärt:

Gemäß dieser Theorie teilen Menschen finanzielle Transaktionen in mentale Konten ein und behandeln diese je nach Konto unterschiedlich. Hieraus ergeben sich falsche Entscheidungen. — Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Mentale_Buchf%C3%BChrung)

Ein kleines Beispiel:

Lisa hat 50 Euro in die Urlaubskasse gelegt, so wie jeden Monat. Der nächste Urlaub will schließlich bezahlt werden! Am Ende des Monats fehlen Lisa aber für den Wocheneinkauf 50 Euro. Lisa wird aller Wahrscheinlichkeit nach keine 50 Euro aus der Urlaubskasse entfernen, denn die Urlaubskasse hat weit mehr “Wert”, als die Haushaltskasse. Das Geld selbst ändert sich nicht, aber der emotionale Wert des Geldes schon.

Mental Accounting bei Investoren

Bei Investoren ist das Mental Accounting in seiner ganzen Pracht immer wieder zu beobachten. Sie teilen ihr Geld beispielsweise auf in Kategorien wie “sichere Investitionen”, “riskante Investitionen” und “Rücklagen”. Die Folge davon ist wie folgt:

  • Mit dem Konto “sichere Investitionen” wird Value Investment betrieben
  • Das Konto “Rücklagen” wird gar nicht angefasst
  • Und mit dem Konto “riskante Investitionen” werden unter Umständen Investitionen getätigt, die unter anderen Umständen so nie stattgefunden hätten

Die Problematik, die sich daraus ergibt, ist, dass Optimierungen nur innerhalb der mentalen Konten stattfinden. Dabei könnten mehr Konten wesentliche bessere Profite erzielen, wenn das Risiko denn auch über mehr Konten verteilt würde. Thaler beschrieb auch, dass rationale Entscheidungen bei Sachverhalten, die voneinander abhängig sind, einer Gesamtbetrachtung bedürfen. Die Aufteilung in mentale Konten verhindert diese Gesamtbetrachtung allerdings. Während die “Kontenbildung” bei der Übersicht über Einnahmen und Ausgaben durchaus nützlich ist, verhindert sie Profite durch den Handel mit Finanzinstrumenten.

Selbstüberschätzung

Das letzte Schlüsselverhaltensmuster, welches Behavioral Finance beschreibt, ist die Selbstüberschätzung. Wir Menschen tendieren dazu, unsere eigenen Fähigkeiten und unser Wissen (teils massiv) zu überschätzen. Das führt zu einer verzerrten Selbsteinschätzung und der sogenannten Wissensillusion. Auf Wikipedia heißt es hierzu:

Selbstüberschätzung ist eine Form der systematischen Fehleinschätzung eigenen Könnens und eigener Kompetenzen. In der Verhaltensökonomie wird der Selbstüberschätzung aufgrund von robuster experimenteller Evidenz eine wichtige Rolle in Beurteilungen, Heuristiken und Entscheidungsprozessen von Menschen eingeräumt. — Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Selbst%C3%BCbersch%C3%A4tzung)

Wir schätzen uns dabei oft besser ein, als andere Menschen (selbst dann noch, wenn das mathematisch unmöglich ist). Hinzu kommt der Fakt, dass die Selbstüberschätzung zunimmt, je mehr Zeit zwischen Einschätzung und eintretendem Ereignis liegt. Zudem neigen wir dazu, uns in einer illusionären Sicherheit aufgrund von vorhandenem Wissen zu wiegen. In allen drei Fällen kann das fatale Folgen bei Entscheidungen an den Finanzmärkten haben.

Selbstüberschätzung ist eines der gefährlichsten Verhaltensmuster

Die wenigsten mir bekannten “Finanzprofis” neigen zu Selbstzweifeln. Denn der Erfolg der Vergangenheit spricht ja schließlich für sich. Kennst du nicht auch die Tweets, in denen sich “Analysten” selbst rühmen, für eine frühzeitige Einschätzung, die sich dann als richtig erwiesen hat? Meine Folgefrage hierzu lautet: Wie oft liest du von ehrlichen Selbstreflektionen bzgl. richtiger und falscher Einschätzungen? Richtig, nie! Vor allem dann nicht, wenn noch andere Experten die Lage ähnlich einschätzten.

Zahlreiche Studien belegen, dass die Einschätzung dieser Profis zu rund 50% schlicht falsch ist. Solche Fälle werden dann als Anomalien oder wahlweise auch als “wir bewegen uns nicht in einer exakten Wissenschaft” abgetan. Leider steigt die Selbstüberschätzung von uns Menschen nur noch mehr an, wenn wir komplexere Sachverhalte vorliegen haben. Und der Handel an den Finanzmärkten ist mitunter sehr komplex.

Auf der anderen Seite hat die Selbstüberschätzung, der wir übrigens alle unterliegen, auch ihre Sonnenseite. Denn nur die wenigsten Menschen wären zu Erfolgen gekommen, würden sie sich stets nur realistisch einschätzen. Denk immer daran: rund 90% aller Trader verlieren Geld. Das heißt, nur die wenigsten Trader schaffen es auf +/- Null zu kommen oder gar kontinuierliche Profite zu realisieren. Ohne Selbstüberschätzung würde wohl kaum überhaupt ein Mensch traden.

Schlusswort zu Behavioral Finance

Behavioral Finance umfasst selbstverständlich einen weit größeren Bereich, als in diesem Artikel vorgestellt. In den kommenden Wochen und Monaten werden wir uns immer wieder mit Ansätzen aus diesem Teilgebiet der Verhaltensökonomie beschäftigen.

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Disclaimer: An dieser Stelle sei erwähnt, dass sämtlich gemachte Angaben ausdrückliche keine Finanzberatung oder Ermutigung zu irgendwelchen Investitionen darstellen. Vor Investitionen oder Tradingaktivitäten ist immer eigene Recherche zu betreiben. Der Handel mit Finanzinstrumenten birgt ein hohes Verlustrisiko und es sollte daher nie mehr Kapital eingesetzt werden, als beim Verlust verschmerzt werden kann. Ich nutze für unsere Analysen Tradingview.

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Thomas aka DecenTrade

Krypto Momentum Investor, Trader, Journalist. Ich liebe Kaffee, das geschriebene Wort und Kryptowährungen. Aber auch die Natur und die menschliche Psyche!